Unser Ulk-Umzug
Die Abiturprüfungen lagen hinter uns, alle 19 Klassenkameraden der 13 m hatte bestanden und warteten auf die Überreichung der schriftlichen Reife-Nachweise. Jetzt beschäftigte uns ein neues Thema. Wie feiern wir gebührend das Abitur? Der Klassenrat tagte und brütete Ideen aus. (Nennt man das heute auf neudeutsch nicht "brain storming"?) Es musste schon etwas besonderes sein, das aus dem Rahmen fiel, das waren wir uns schuldig.
Schließlich hatten wir uns etwas ausgedacht. Fast alle mussten bei der Vorbereitung eine Aufgabe übernehmen, motiviert und nach dem Abschluß des Prüfungsstresses auf einer rosa Wolke schwebend.
Michels Vater war Hauptkommissar bei der Polizei in Verden. Von dieser Seite erhielten wir schriftlich die Genehmigung, in der Verdener Innenstadt einen sogenannten "Ulk-Umzug“ veranstalten zu dürfen. Ein anderer hatte herausgefunden, dass auf einem Schrottplatz ein ausgedientes altes Feuerwehrauto stand. Es gefiel uns, wir schoben es mühsam erst einmal zum Außentor des Platzes. Ein früherer Klassenkamerad, Carl Hesse aus Varste, wollte einen Traktor aus der väterlichen Landwirtschaft und sich als Fahrer zur Verfügung stellen.
Es waren Getränke zu organisieren, natürlich vorzugsweise Bier. Ein Blumenstrauß musste gekauft werden. Einer bereitete eine Rede vor, die er am Ende des Umzugs auf unserem Schulhof vortragen sollte. Die Rede wurde auf der Rückseite eines CDU-Wahlplakates niedergeschrieben, von dessen Vorderseite Wirtschaftsminister Ludwig Erhard uns optimistisch anlächelte. Für musikalische Unterstützung wurde auch gesorgt. Richard und Heinz-Wilhelm bereiteten ihre Posaunen zum Blasen vor.
Mit derlei Vorbereitungen verging die Zeit bis zum Ereignis wie im Fluge. Leider stellten wir fest, dass sich fast unbemerkt einer von uns für drei Tage von unserer Truppe abgesetzt hatte. Seine Mutter wusste auch nicht, wo er war. Nach drei Tagen tauchte er wieder auf. Wir erfuhren, dass er im Hause eines Lehrers, mit dessen Sohn er befreundet war, um alkoholisches Asyl nachgesucht und auch erhalten hatte. Da er in den letzten Jahren in der Schule hart um sein Weiterkommen kämpfen musste und sein Abitur-Erfolg erst nach einer Zitterpartie feststand, hatte er wohl den ganzen Stress ausgiebig herunterspülen müssen. Beim Umzug fehlte auch unser angehender Pastor. Er war kein seltsamer Heiliger, aber vielleicht fürchtete er neben Gott auch den ungestümen Tatendrang alkoholisierter Klassenkameraden.
Dann war der Tag endlich da. Morgens fuhr eine Vorhut mit Carl Hesse und seinem Traktor zum Schrottplatz, um das Feuerwehrauto abzuholen. Sie brachten es zum Haus, in dem Wolfgang wohnte. Dort begannen unsere Künstler, vor allem Christian und Klaus, die Wände des Gefährts mit Farben und skurrilen Zeichnungen zu verschönern. Farbe und Pinsel hatten sie natürlich mitgebracht.
Inzwischen trafen die feierfreudigen restlichen Klassenkameraden ein. Nach einem kräftigen ersten Stärkungsschluck mit diesem begehrten Gerste-Gebräu verstauten wir diesbezüglichen Nachschub in unserer Feuerwehr. Wir setzten unsere roten "Schülermützen" auf. (Der Leser erinnert sich?) Rolf und Volker dekorierten sich mit Feuerwehrhelmen, die Bläser Richard und Heinz-Wilhelm, mit kaiserlichen Pickelhauben auf dem Kopf, bliesen auf den Kotflügeln sitzend ihre Posaunen, die Klassenkameraden verteilten sich im Feuerwehrwagen, auf dem Wagendach oder gingen nebenher, der Fahrer ließ den Traktor anspringen, und dann tuckerten wir gemächlich am Rathaus vorbei, die Große Straße entlang in Richtung Domgymnasium.
Auf dem Rathausplatz und auf dem von-Einem-Platz legten wir jeweils einen „technische Halt" ein, um „Kraftstoff“ nachzutanken, einen Stoff, der aber nicht für den Traktor, sondern für unsere Kehlen bestimmt war.
Zeitlich hatten wir die Fahrt so eingerichtet, dass wir zum Beginn der großen Pause blasen, singend und Biergläser stemmend auf den Schulhof fuhren. Die zur Pause herausströmenden Schüler waren natürlich höchst gespannte auf das bevorstehende Schauspiel. Auch die Lehrer versammelten sich und hielten sich dezent etwas abseits.
Jetzt stand also die Feuerwehr mitten auf dem Schulhof, flankiert von strahlenden Abiturienten und umringt von einer erwartungsvollen Schüler- und Lehrerschar.
Das zweckentfremdete Erhard-Plakat wurde aufgerollt und eine kurze programmatische Rede vorgetragen. Dazu ertönte mal eine getragene, mal eine etwas flottere Weise unserer "Blaskapelle".
Wir hatten inzwischen alte Schulbücher und -hefte aus der Feuerwehr geladen und stapelten sie auf. Die nach dem Abitur obligatorische Schulbuch-Verbrennung begann.-- Bei diesem Bericht stockt die Feder. Dachten wir damals daran, dass der Begriff durch die unselige Bücherverbrennung zur Hitler-Zeit übel besetzt war? Jedenfalls, bei uns handelte es sich natürlich nicht um einen Angriff auf Demokratie, Andersdenkende und deutsche Dichtung. Wir wollten uns als Ausdruck der Erleichterung symbolisch Abschied von den anstrengenden Lehrmitteln nehmen.
Ludwig und Klaus eilten mit einem aufgerollten Feuerwehrschlauch herbei, um mit komödiantischer Übertreibung einen Löschangriff zu simulieren. Es kleckerten aber nur einige müde Tropfen heraus.
Jetzt stellten wir eine kleine Anlegeleiter an das Fenster des Schulsekretariats. Dort saß seit Jahren Fräulein Warnecke, schrieb und organisierte für Direktor und Schule. Sie hatte sich als verständnisvolle, anerkannte Stütze des Domgymnasiums bewährt. Sie konnte sich aus dem Schriftverkehr immer ein eindrucksvolles Bild von unseren "Missetaten" machen. Unsere Klassesprecher Eckhardt nahm den vorbereiteten Blumenstrauß, stieg die Leiter hinauf und "fensterlte". Wir hatten unsere Schulsekretärin vorher in's Bild gesetzt . Sie öffnete lächelnd das Fenster und Eckhardt überreichte dem entzückten Fräulein Warnecke den bunten Blumenstrauß in unserem Namen mit artigen Worten. Das war eine von uns echt empfundene Geste. Die Lehrer ringsum nickten wohlgefällig, warfen uns freundliche Blicke zu und murmelten anerkennende Worte.
Inzwischen war die Pausenzeit längst abgelaufen. Die Schüler und Lehrer kehrten langsam wieder zu ihren "Arbeitsplätzen" zurück, wir stärkten uns noch einmal kräftig nach diesem gelungenen Auftritt und fuhren weiter zu unserem nächsten Ziel. Das war die Mädchenoberschule, das Lyzeum am Nikolaiwall.
Die jungen Damen fanden Gefallen an dieser willkommenen Unterbrechung des Schulalltags, sicherlich an unserem Umzug, vielleicht auch an uns. Die Lehrerschaft verhielt sich dagegen bedeutend reservierter. Unser langsam, aber stetig gestiegener Alkoholpegel ließ sie vielleicht Komplikationen befürchten. Sie verhandelten mit uns in dem Bemühen, uns zur baldigen Weiterfahrt zu bewegen. Wir gaben uns da sehr phlegmatisch; auch als wir förmliche des Schulhofes verwiesen wurden, verließen wir ihn nur sehr langsam. Der Ulk-Umzug war nun zu Ende, wir fuhren die Feuerwehr wieder auf den Schrottplatz und feierten woanders weiter. In Gedanken, Gesprächen und Bildern lebt der Ulk-Umzug bei uns noch weiter.
Einige Bilder sind auf der Folgeseite zu sehen.
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