Klassenfahrt nach Berlin

1. Klassenfahrt mit Folgen

Denkwürdige Klassenfahrt der 13 m nach Berlin im Jahre 1960

Gliederung

1. Unsere Schule, unsere Lehrer, unsere Klasse

2. Eine Klasse auf/in Fahrt

3. „Krumme Lanke“ und „Große Destille“

4. Die gefährliche Anstecknadel

5. Verschollen in Berlin

6. Gesucht, gefunden !.......Und was nun ?

7. Geheimnis und Versprechen

8. Nachbetrachtung

 

1. Unsere Schule, unsere Lehrer, unsere Klasse

Es begab sich aber zu der Zeit, als Studiendirektor Doß Leiter des Domgymnasiums zu Verden an der Aller war und Studienrat Schwarze Klassenlehrer und Mathematiklehrer der 13 m, dass wir unter deren Regime das Brot der frühen Jahre, das heißt, die Schulausbildung erhielten und das Abitur auf dem mathematisch - naturwissenschaftlichen Zweig anstrebten.

Direktor Doß, der im folgenden kurz Doß genannt wird, lebt in unserer Erinnerung als eine Persönlichkeit, die Respekt einforderte. Er bemühte sich, die Schüler in Deutsch, hauptsächlich aber in Geschichte zu unterrichten. Auch von uns erwartete er im Geschichtsunterricht "kluge Antworten als geschulte Historiker", wie er ironisch zu sagen pflegte.

Studienrat Schwarze traktierte den Bildungsnachwuchs mit Physik und hauptsächlich mit Mathematik, einer genialen Mathematik etwas abseits ausgetretener Unterrichtspfade. Nicht jeder verstand sie, aber wir waren ja auch keine Genies.

Wenn die Schüler von ihm sprachen, wurde er „Zeus“ genannt. Wie Zeus, der Göttervater, konnte er lautstark und Angst erregend donnern. Aber sonst war er "Mensch "mit weichem Kern in rauer Schale. Dass er auf seinem Spezialgebiet, der Matrizenrechnung, Vorlesungen an der TH Hannover hielt, zeigte, dass an seiner Genialität wohl doch etwas dran war. Noch eine Kleinigkeit ist zum Verständnis der folgenden Geschichte zu erwähnen. Er trank gern ein Bier oder dergleichen; wenn es sich ergab, wohl auch mehrere. Es ergab sich des öfteren.--- Wir schätzten ihn als verständnisvollen Lehrer.

Wir, das waren damals 19 Schüler zwischen 18 und 20 Jahren, - Mädchen waren an unsere Schule nur in Ausnahmefällen zugelassen, das war damals so - die seit Jahren im Klassenverband der höheren Bildung mit Unterstützung ihrer Lehrer zustrebten, nicht immer erfolgreich gegen allzu menschliche Faulheit ankämpfend , aber dennoch einigermaßen sich bemühten.

Als trainierte Sportler übersprangen wir auch alle Hürden, um das Abitur im März 1961 anzusteuern . Wir waren eine erfolgreiche sportliche Klasse. Über die Hälfte von uns erhielt in Sport sehr gute Noten. Auch in den Grenzbereichen zwischen Schule und Freizeit waren wir tätig, sei es in der SMV (Schülermitverwaltung), Mitarbeit in der Bibliothek, Betreuung biologischer Ausstellungsstücke, in der Photo-AG, in der Astronomie-AG, um nur einiges zu nennen. Drei politisch sehr Interessierte waren Mitglieder in der "Jungen Union ", der Jugendorganisation der CDU. Die Neigung zur SPD war weniger ausgeprägt.

Darüber soll nicht vergessen werden, dass es eine Reihe von uns auch im Skat, Doppelkopf und dem dazugehörigen Biertrinken keine schlechte Figur machte.

Der Förderung des Reifeprozesses der Gymnasiasten pflegten wohl auch Klassenfahrten zu dienen. Von unserer Klassenfahrt im Jahre 1960 soll jetzt die Rede sein.

2. Eine Klasse auf / in Fahrt

Gleich zu Beginn des Schuljahres - in jenen Zeiten fing das Schuljahr noch im Frühjahr an - war zu entscheiden, wohin uns die Klassenfahrt führen werde. Sie sollte ja auch etwas der Bildung dienen. Jedenfalls waren wir mit dem Angebot einverstanden, dass die große einwöchige Klassenfahrt nach Berlin gehen sollte.

Wir erinnern uns, Berlin war damals Vier- Sektoren- Stadt, die Mauer stand noch nicht, man konnte noch, von leichten Schikanen der östlichen Seite begleitet, von West- nach Ost-Berlin (und zurück!) fahren. Uns braven Kleinstädter reizte natürlich ein Ausflug in das große Berlin.

Der Status Berlins als Vier- Sektoren- Stadt war ein Kernthema der damaligen politischen Auseinandersetzung. Der Westen warf seinem östlichen Partner, besser Gegner, vor, er begrenzte die Freiheit in der gemeinsam zu verwaltenden Stadt. Die SBZ (Sowjetische Besatzungszone), so damals die offizielle Bezeichnung in der Bundesrepublik, versuchte mit schikanösen Maßnahmen die anwachsende Fluchtbewegung ihrer Bürger zu bremsen. Jedes Mittel war ihren Machthabern recht, um Freizügigkeit für die Bürger zu behindern. Außerdem erschwerte man den Bürgern der Bundesrepublik Besuche. In Berlin waren die verschiedenen Aktionen des Regimes besonders deutlich zu spüren. Für die Übergänge von West nach Ost dachten sich die östlichen Machthaber ständig neue Schikanen aus, so dass manche West-Berliner überhaupt nicht mehr in den Osten reisten. Politisch forderte man im Westen die Öffnung der Grenze, was natürlich keine Aussicht auf Erfolg haben konnte. In der Bundesrepublik lautete die allgemeine Forderung: " Macht das Tor auf!" Zum Ausdruck der gemeinsamen politischen Überzeugung trugen viele Menschen eine Anstecknadel mit dem Emblem des Brandenburger Tores. Solch eine Anstecknadel wird noch eine Rolle spielen.

Wir fuhren also geschlossen mit dem Zug dorthin, nachdem wir die einschlägigen Ermahnungen über angemessenes Verhalten und Aufgeschlossenheit gegenüber politischen und kulturellen Veranstaltungen über uns ergehen lassen haben. Am......... kamen wir in Berlin an und bezogen unser Quartier in............ Damit wir uns in Berlin frei bewegen konnten, hatte jeder von uns für die Dauer unseres Aufenthaltes einen gültigen Fahrausweis der Berliner Verkehrs Betriebe (BVB) bekommen.

In den nächsten Tagen spulten wir das vorgesehene Programm ab, Besuch eines Basketball-Spiels der Harlem - Globetrotters im Sportpalast, die gerade in Berlin gastierten, Besuch der Museen in Ost-Berlin auf der Museumsinsel, Besuch des Olympiastadions, und anderes.

3. „Krumme Lanke“ und „Große Destille“

Nach den manchmal ermüdenden Besichtigungen meldete sich gegen Abend außer dem Hunger auch der Durst. Wir pflegten uns dann behutsam von Zeus zu lösen und ratterten mit der U-Bahn wieder nach unserer Station Oscar - Helene - Heim oder gleich weiter zur " Krumme Lanke ". Eher zufällig hatten wir in der Nähe der U-Bahnstation eine kleine Gaststätte, die " Große Destille ", als unser " Stammlokal " für die wenigen Tage in Berlin gefunden.

Wir hatten aber ziemlich oft Durst. Dort genehmigten wir uns dann den einen oder anderen Klaren. Um den nicht so " trocken herunterzuwürgen ", war es natürlich angebracht, reichlich mit Bier zu spülen. Aber alles halb so schlimm. Die Berliner Brauereien brauchten keine Sonderschichten einzulegen. Ob wir allerdings am nächsten Morgen immer sehr frisch waren, diese Frage wollen wir nicht weiter vertiefen.

4. Die gefährliche Anstecknadel

Nun kam ein Tag, an dem einiges schief ging. Bereits morgens, als wir uns auf unsere Fahrt nach Ost- Berlin zur Museumsinsel vorbereiteten, meldete Uli: " Ich habe meinen Fahrausweis verloren! " Ken als geborener Berliner erklärte sich sofort bereit, den Ausweis bei den Berliner Verkehrsbetrieben zu suchen. Er fuhr also stadtauswärts in Richtung Krumme Lanke, während die Klasse sich in Richtung Friedrichstraße in Bewegung setzte. Im Bahnhof Krumme Lanke erfuhr Ken, dass der Ausweis tatsächlich gefunden worden sei. Man hatte ihn zur allgemeinen Fundstelle, die sich im Bahnhof Gleisdreieck befand, weitergeleitet. Er fuhr also dorthin, wo er den Ausweis für Uli wieder in Empfang nahm. Dann eilte er der Klasse nach und holte Sie tatsächlich bald ein. Er hörte, wie die Klassenkameraden aus einem der vorderen Wagen seinen Namen riefen. Aus Zeitmangel stieg er hinten ein, sprang in der nächsten Station heraus und spurtete nach vorn. Das war aber die Station Friedrichstraße, der erste Bahnhof im Osten. Bekanntlich erlangte er später als größter Übergangsbahnhof von West nach Ost noch traurige Berühmtheit. Während Ken auf dem Bahnsteig noch lief, wurde ihm plötzlich bewusst, dass er jetzt im Osten sei. Er nahm noch im Laufen sein Berlin - Abzeichen ab und steckte es in die Tasche. Dann war er wieder bei der Klasse; besonders Uli war froh, dass er seinen Ausweis wiederhatte. Doch der Zug fuhr nicht an, er blieb stehen. Nach einigen Minuten öffnete sich die Türe des Abteils, ein Uniformierter steuerte direkt auf Ken zu und forderte ihn auf mitzukommen. Ken wollte dem Folge leisten, doch da griff Zeus ein: " Ich bin der Klassenlehrer, was wollen Sie von meinem Schüler? "

Der Uniformierte: " Er muss mitkommen zu einem Verhör! ".

Zeus: " Dann möchte ich aber mitgehen! "

" Das dürfen Sie! " beschied ihn der Beamte.

Mit der Klasse wurde vereinbart, dass sie ihr Programm fortsetzen sollte. Zeus und Ken wollten sie nach dem Verhör auf der Museumsinsel wieder treffen. Zum Verhör wurden Zeus und Ken von dem Beamten in einem Innenraum des U-Bahnhofes geführt, und der Beamte ging mit Ken in einen abgedunkelten Raum. Zeus musste im Vorraum Platz nehmen. Von dort konnte er alles mit anhören. Das Verhör dauerte etwa zehn Minuten, die entscheidenden Fragen waren: " Warum tragen Sie das Abzeichen mit dem Brandenburger Tor? Ist das Tor nicht offen genug? "

Ken meinte, nein!

Der Beamte: " Haben Sie etwas dagegen, wenn ich das Abzeichen einziehe? "

Ken sagte " nein ", was sollte er sonst auch sagen.

Danach waren Zeus und Ken entlassen. Sie nahmen die nächste U-Bahn und fuhren hinter der Klasse her; die trafen sie in einem der Museen. Wir führten den Rest des Tagesprogramms im Osten der Stadt Berlin wie geplant durch.

Zeus war erleichtert, aber er grollte verhalten, solche Verwicklungen durch jugendliche politische Unbekümmertheit stressten ihn merklich. Auf dem Rückweg in den Westteil der Stadt fuhr die Klasse wieder über den Bahnhof Friedrichstraße. Ken saß neben Axel, der das aktuelle Exemplar des " Neuen Deutschland " in der Hand hielt und einige Sätze daraus vorlas. Die Klasse amüsierte sich, auch Ken und der ihm gegenüber sitzenden Klassenkamerad lachten laut während Axels Vorlesung. So fuhren wir in den Bahnhof Friedrichstraße ein. Der Zug hielt und blieb wiederum stehen. Nach einer Weile öffnete sich die Türe des Abteils und es kam ein Beamter der Zone herein. Er ging auf die Zeitungsleser zu und forderte sie auf, zum Verhör mitzukommen. Entnervt sprang Zeus auf und ging auf den Beamten zu: " Ich bin der Klassenlehrer, darf ich mitkommen? "

Der Uniformierte betrachtete Zeus, den er offensichtlich noch vom vorigen Verhör in Erinnerung hatte. Nach einer Weile meinte er: " In diesem Fall werde ich von einem Verhör Abstand nehmen! " Dann konnten wir weiterfahren.

5. Verschollen in Berlin

Der Tag war also etwas strapaziös gewesen. Wir Schüler fühlten das Verlangen, die ganze Aufregung hinunterzuspülen. Aber noch am selben Abend stellten wir bei unserer Rückkehr in die Unterkunft fest, dass Zeus nicht da war. Wir konnten ihn jedenfalls den ganzen Abend nicht finden. Am nächsten Morgen war Zeus immer noch nicht da. Das beunruhigte uns, aber wir beschlossen, das vollständige Programm unserer Klassenreise auf eigene Faust und in eigener Regie weiter durchzuführen. Das klappte auch ganz gut. Unser Problem blieb aber und wurde immer drängender, Zeus wieder zu finden. Wir versuchten uns zu erklären, dass er wohl Bekannte getroffen habe und ein wenig " versackt " sei. Am Tag darauf war Zeus aber immer noch nicht da. Wir beratschlagten. In Verden anzurufen, kam für uns nicht in Frage.

Hans ergänzt später: “ Helmut und ich sind schließlich [abends] zur Kripo an den Argentinischen Platz gefahren, um Vermisstenmeldung zu erstatten. Wir trafen auf einen - wie ich heute denke - sehr verständnisvollen Beamten, der meinte, der Zeus würde sicher wiederkommen, andernfalls sollten wir am nächsten Tag noch mal wieder kommen. ”

6. Gesucht, gefunden!....... und was nun?

Nächster Tag: Es wurde Nachmittag, wir mussten etwas unternehmen, da waren wir uns einig. Also machten sich vier von uns auf, um mit dem Bus in die Stadt zu fahren und bei der Polizei die Vermisstenmeldung aufzugeben. Als der Bus an einer großen Kreuzung halten musste, rief Eckhardt plötzlich: " Da ist Zeus! " " Wo? Wo? ". Er hatte ihn in einem Taxi am Straßenrand gesehen. Glücklicherweise war die nächste Haltestelle nicht weit. Die vier stürmten aus dem Bus, rannten zurück und was sahen sie da? Am Straßenrand stand das Taxi. Der verzweifelte Taxichauffeur versuchte vergeblich, aus seinem Fahrgast das Ziel der Fahrt herauszufragen. Der Fahrgast war tatsächlich Zeus!!!

Aber wie sah er aus? Schrammen im Gesicht, ein Pflaster, die Kleidung - milde gesagt - etwas ungeordnet, und er offensichtlich noch in einem Dunstkreis, der unabweislich auf kräftigen Alkoholgenuss hinwies.

Es ist kaum zu glauben, in der Millionenstadt Berlin fanden wir Zeus zufällig auf der Straße. Nun konnten wir uns um unseren jetzt sehr hilfsbedürftigen Lehrer kümmern, bis alles wieder in rechten Bahnen lief. Wo er in jenen zweieinhalb Tagen (und Nächten) gewesen war, haben wir nie erfahren. Wahrscheinlich ist er die ganze Zeit in Berlin umhergeirrt, um seinen Stress nach den Erlebnissen an der Grenze abzubauen. Dabei hatte er wohl eine andere Grenze überschritten.

Aber was nun? Wenn in Verden bekannt wurde, dass sich ein Lehrer als Aufsichtsperson von seinen Schutzbefohlenen in dieser Weise entfernt und sie alleingelassen hatte, wären Ermittlungen und Disziplinarmaßnahmen nicht nur wahrscheinlich, sondern ziemlich sicher gewesen mit nachhaltigen Folgen.

7. Das Geheimnis, das Versprechen

Natürlich wollten wir das nicht. Also beschlossen wir am gleichen Abend, während Zeus sich erholte, die ganze Angelegenheit totzuschweigen. Keiner sollte zu irgendjemandem, seien es Eltern, Freunde, Bekannte, etwas über dieses Berlin - Abenteuer. verlauten lassen. Es durfte einfach nicht stattgefunden haben, die Klassenfahrt war normal und erfolgreich verlaufen. Wir waren uns einig: das ist der einzig gangbare Weg zur Schonung unseres Lehrers. Das dachten wir damals, das denken wir noch heute.

Zeus schrieb nach Ausnüchterung ein langes Telegramm an Doß. Später erfuhren wir, dass wohl der wesentliche Inhalt in einem sarkastischer Dank bestand für die „hervorragende staatsbürgerliche Ausbildung“, die wir in der Schule ganz offensichtlich genossen hätten und die in Berlin konkret umgesetzt worden war. Besonders wurde der „Politprovokateur“ Ken genannt. Den genauen Text dieses Telegramms haben wir nie kennen gelernt

Auf der Rückreise im Zug nach Verden dauerte es eine Zeit, bis nach den diplomatischen Bemühungen aller Beteiligten die Risse zwischen Zeus und insbesondere Ken gekittet waren. Ken setzte durch, dass er wegen seines Verhaltens in Berlin keine Nachteile in der Schule erleiden dürfe. Andererseits konnte Zeus mit unserer Verschwiegenheit rechnen. So war es beschlossen und so geschah es. Zeus' Berlin - "Abenteuer" wurde nicht bekannt; immerhin erstaunlich, aber es war so.

8. Nachbetrachtung

Wir 19 Oberprimaner machten alle im Frühjahr 1961 unser Abitur. Wie wir hörten, hatte sich Zeus in diversen Lehrer- Konferenzen äußerst energisch für das erfolgreiche Abschneiden einiger auf der Kippe stehender „Wackelkandidaten“ eingesetzt.

In den darauf folgenden Jahren sahen wir Zeus bei allen unseren Abi - Feiern, zu denen wir uns anfangs jedes Jahr, später alle fünf Jahre in Verden trafen. Zu seinem 90. Geburtstags im Jahre 1997 besuchten wir ihn in seiner Wohnung in Verden. Vor wenigen Jahren ist er dort, über 90 Jahre alt, verstorben.

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© Ulrich Kohlstädt 2019