4. Klassenfahrt nach Göttingen
Mit Klassenfahrten ist das so eine Sache. Die Schüler möchten da etwas erleben, oft das, was dem Kultusministerium oder der Schulleitung nicht unbedingt förderungswürdig erscheint. Außer der Pflege des Gemeinschaftsgeistes darf nämlich auch die Bildung nicht zu kurz kommen, zumindest soll in irgendeiner Weise durch entsprechend „seriöse" Erlebnisgehalte der „Reifeprozess“ gefördert werden.
So war das auch 1959. „Zeus", unser Klassenlehrer, schlug Göttingen als Zielort vor. Er holte unsere Meinung ein, die aber beileibe nicht ausschlaggebend zu sein brauchte. Wir stimmten zu. Warum ? Unserem Erlebnishunger kam entgegen, dass wir dort einmal studentisches Leben kennen lernen konnten. Nein, nicht nur durch den orientierenden Besuch einer Vorlesung an der Göttinger Uni, sondern auch durch Einladung zu studentischen Verbindungen. Das roch nach Erlebnis und schmeckte nach schäumendem Bier.
Wie wir von Vorgängerklassen wussten, gab es in der Göttinger Jugendherberge, die dann als Unterkunft zu dienen pflegte, in einem der ebenerdigen Schlafräume ein Fenster, das mit einem Vierkant leicht zu öffnen sei, während die anderen "ausbruchsicher" verschlossen waren.
Vom pädagogischen Standpunkt her gab die berühmte Göttinger Universitätsstadt das geeignete Ambiente ab, um die Schüler einen Hauch der geistigen Welt, der Forschung, der Bildung atmen zu lassen.
Nach dem Bezug der Unterkünfte in der Jugendherberge machten wir uns natürlich gleich daran, besagtes Fenster zu finden und zu probieren, ob es in der beschriebenen Weise zu öffnen war. Es war.
Das Programm der nächsten Tage sah Besichtigungen der Stadt, Besuch einer Theateraufführung und Besuch der Universität vor. Ganz offiziell stand auch zweimal der Besuch bei studentischen Verbindungen auf dem Programm; es bestanden persönliche Beziehungen zu Göttinger Verbindungsstudenten.
Für uns war dabei die Aussicht verlockend, in die Gepflogenheiten einer studentischen Kneipe mit ihren Ritualen eingeweiht zu werden, und nicht zuletzt begrüßten wir die willkommene Gelegenheit, kräftig in dieser Gesellschaft Bier trinken zu können. Unter Zeus' Obhut war alles wohl organisiert. Jede Kneipe sollte für uns bis 21 Uhr dauern, danach sorgte Zeus für pünktliche Rückkehr in die Jugendherberge. Fiel es ihm vielleicht auf, dass wir uns seinen Anweisungen ungewohnt widerspruchslos fügten und nicht „Zeit schinden" wollten?
Also waren wir pünktlich in der Herberge, verabschiedeten uns von Zeus zur Nachtruhe und warteten, bis wir glaubten, die Luft sei rein. Dann kam der Vierkant zum Einsatz und mehr als ein Dutzend unternehmenslustiger Unterprimaner kletterte durch das geöffnete Fenster. So waren wir bald wieder bei den Studenten und setzten unseren " Schnupperkurs in studentischer Freizeitgestaltung" fort. Die Studenten waren natürlich vorher eingeweiht worden. Sie legten aber verständlicherweise Wert darauf, nicht als Anstifter zu gelten (das waren sie auch nicht), falls wir ertappt würden. Einigen Klassenkameraden ging die Anpassung zu weit, sie machten sich „vorzeitig" auf den Heimweg. Die anderen tagten weiter. Wie lange ? Nun ja, so genau wissen wir das nicht mehr. Immerhin waren wir diszipliniert genug, geräuschlos durch das Fenster in die Schlafräume zu krabbeln und am nächsten Morgen einen halbwegs ausgeschlafenen Eindruck zu vermitteln.
Hatte Zeus wirklich nichts wahrgenommen oder wollte er, aus welchen Gründen auch immer, nichts merken? Über diesen nächtlichen Ausflügen soll nicht vergessen werden, dass wir tagsüber tatsächlich Eindrücke von Göttingen und seiner Universität erhielten und auch verarbeiteten. Denn Göttingen war schon im 19. Jahrhundert, zu Anfang des 20. Jahrhunderts und besonders dann in den Zwanzigern eines der Zentren der Geistes- und besonders der Naturwissenschaften. Wir erfuhren nachhaltig, welche Koryphäen der Forschung und wie viele Nobelpreisträger den Ruf dieser Bildungsstätte begründet und gesteigert hatten.
Auch wurde an diesem Ort manchen klar, welchen schwerwiegenden Verlust an hervorragenden Wissenschaftlern die unselige Zeit des Dritten Reiches auch für Göttingen und für Deutschland bedeutet. Es fällt uns heute schwer zu glauben, dass deutsche Wissenschaftler je wieder diese Weltgeltung erlangen könnten. Allenfalls ahnten wir das damals, im Laufe der folgenden Jahre bis heute hat sich das leider bestätigt.
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