5. Der "lächerliche Zwerg" oder "im Zwergenland"
Ja, in den letzten 40-50 Jahren hat sich das Leben bei uns in Deutschland - und nicht nur da- stark verändert. Das ist sicher keine neue Erkenntnis. Zurückschauend sehen wir eine gleitende Entwicklung, die sich aber mit der Zeit beschleunigte.
Manche unserer Lehrer, die uns in den fünfziger Jahren unterrichteten, waren noch in der Kaiserzeit geboren. Die meisten wuchsen in den zwanziger und frühen dreißiger auf und hatten noch vor dem Krieg oder kurz danach ihre Berufsausbildung beendet. Diese Zeiten hatten ihr Denken, ihre Vorstellungswelt, mithin auch ihre Grundsätze der Schulerziehung geprägt. Das konnte sich dann in Strenge, in Autoritätsdenken , in mangelnder Diskussionsfähigkeit und -bereitschaft äußern. Dazu trugen die ersten Jahre der Nachkriegszeit mit ihren auch für Lehrer einschränkenden Bedingungen bei und hinterließen Spuren.
Ein kleines, in diesem Sinne typisches Erlebnis eines Klassenkameraden soll diese Situation beleuchten.
Studienrat Jansen, genannt " Itzka " Jansen, oft barsch, ein wenig cholerisch und unberechenbar, vermittelte an unserer Schule Deutsch-, Erdkunde - und Religionskenntnisse. Er gab sich streng und hierarchiebewusst. Ein Psychologe könnte das als Kompensation seines bescheidenen körperlichen Wuchses, er war knapp 1,60 m groß (oder besser klein !), deuten.
Bevor die " story " nun endlich beginnt, muss noch der andere Beteiligte erwähnt werden, in diesem Jahre 1960 der Unterprimaner Dieter, ein Schüler mit im großen und ganzen recht guten Schulleistungen, jedenfalls in dieser Hinsicht ungefährdet. Zum Verständnis der Geschichte muss weiterhin noch erwähnt werden, dass er ganz und gar nicht der Typ eines Schürzenjägers und in dieser Hinsicht weder positiv noch negativ aufgefallen war. Dieter war damals (und ist es heute noch) 1,90 m groß.
Also, eines Morgens kurz vor Schulbeginn strömten die Schüler wie gewöhnlich über die steinernen Stufen der Eingangstreppe, zwängten sich durch das Portal und verteilten sich vom großen Korridor im Erdgeschoss aus über die anderen Ebenen, um zu ihren Klassenräumen zu gelangen, unter ihnen auch Dieter.
Hinter der Eingangstür stand aber mit finsterer Miene Itzka Jansen und forderte den ahnungslosen Dieter barsch auf mitzukommen. Er ging also mit ihm den Flur entlang und fuhr ihn dann an: "Haben Sie es nicht nötig, mich zu grüßen? "
D.: " Tut mir leid! Wo war das? Ich habe Sie nicht gesehen. "
J.: " Das ist eine Unverschämtheit, Sie gingen mit einem Mädchen auf der anderen Straßenseite an mir vorbei. Was war das für ein Mädchen? "
D. : " Ich habe Sie nicht gesehen, es war dunkel, ich bin mit einem Mädchen spazieren gegangen, was ist denn dabei?"
J.: " Sagen Sie mir sofort den Namen des Mädchens, ich will wissen, wer das war. "
D.: " Den Namen sage ich Ihnen nicht, damit haben Sie gar nichts zu tun. "
Itzka explodierte förmlich und erging sich in weiteren unsinnigen Betrachtungen.
In der Zwischenzeit hatte sich ein dichter Kreis neugieriger Schüler angesammelt und umringte die beiden. War doch klar, ein solches Spektakel versprach höchsten Unterhaltungswert ! Dann erreichte Itzka den Höhepunkt seines Auftritts; er sah mich mit einem, wie er wohl vermeinte, vernichtenden Blick von ganz unten bis weit oben an (1,60 m gegen 1,90 m !) und zischte, " das werden Sie noch bereuen, Sie lächerlicher Zwerg, Sie !!! "
Ein Riesengelächter der Umstehenden schallte durch die ehrwürdigen Gänge unseres Domgymnasium. Itzka, aufs höchste gereizt, setzte noch einen drauf und schrie: " Ich werde dafür sorgen, dass Sie das Abitur nicht kriegen! " und schob ab in Richtung Lehrerzimmer. Lachend zerstreute sich die Menge, Dieter war nicht zum Lachen zumute, aber das gab sich bald.
Heute würde man wohl sagen, dieser Zwischenfall wirkte sich für ihn in den Augen der Mitschüler " image-fördernd " aus.
Ja, so etwas war damals möglich. Was würde wohl heute ein 19 - jähriger Schüler dem Lehrer erzählen, wenn der es wagte, ihn anzuschreien und zu fragen, mit welchem Mädchen er spazieren gegangen sei.
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