9. Der leichtsinnige „Liliput“aner
Wie bei einer mehrstündigen Klassenarbeit üblich führte der Lehrer in den Stunden, die ihm „weggenommen " wurden, Aufsicht. So saß auch Studienrat Suling, genannt „Mac“ Suling, vorn und überwachte uns mehr oder weniger gelangweilt bei unseren Bemühungen, lateinische Texte zu übersetzen, die sich uns zu verweigern schienen . Mac Suling unterrichtete am Domgymnasium Erdkunde und Englisch. Wir erinnern uns an ihn als einen hageren, drögen Bremer, der stark kurzsichtig war, so kurzsichtig, dass er oft Vorführungen von Bildern mittels eines Epidiaskops von hinten mit einem kleinen Feldstecher kommentieren musste.
Aber zurück zur Lateinarbeit. Links vorn saß Dieter grübelnd über seinem Text. An den Klippen einiger schwierigerer Vokabeln war er auf Grund geraten. Er dachte also, es sei für ihn ein leichtes, das kleine Liliput - Wörterbuch hervor zu ziehen und es unter dem Tisch zu befragen. Von Mac drohte wohl keine Entdeckungsgefahr, glaubte er.
Als er in das klein gedruckte Büchlein vertieft, einhändig blätterte, griff plötzlich geräuschlos ohne Vorwarnung einer Hand über den Tisch und ergriff den Liliput. Mac steckte ihn wortlos seelenruhig in seine Jackentasche und setzte sich wieder hin. Alles war so ruhig und unauffällig vor sich gegangen, dass nicht einmal Ken als Banknachbar etwas davon bemerkt hatte. Es geschah sonst weiter nichts. Man konnte das ganze auch als Bagatelle betrachten. Aber hochgradig peinlich war eben, dass ausgerechnet ein sehbehinderter Lehrer die kleine Mogelei entdeckt hatte.
Es bleibt nur noch zu berichten, dass nach einigen Wochen Mac dem Dieter auf dem Flur im Vorübergehen wortlos mit leichtem Lächeln den Liliput wieder zurückreichte. Dem „Liliput“aner blieb nichts anderes übrig als sich artig zu bedanken.
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