Karl Kleinschmidt, “Kalle” (1898 - 1978):
Physik
Physik bei „Kalle“ - Lernen und Leiden
Als „m“-Klasse auf dem mathematisch-naturwissenschaftlichen Zweig des Domgymnasiums begleitete uns neben Mathematik besonders das Fach Physik bis zum Abitur. Die anderen naturwissenschaftlichen Fächer Chemie und Biologie konnten sich erst in zweiter Linie Geltung verschaffen. Warum? Zu unserer Zeit fußten diese beiden Fächer noch nicht auf den analytischen Grundlagen, die sie gleichberechtigt neben Mathematik und Physik gestellt hätten.
Der Physikunterricht vermittelte uns die Grundlagen eines Fachgebietes, das sich bereits zu unserer Zeit aus vielen eigenständigen naturwissenschaftlichen oder technischen Fachgebieten zusammensetzte. Aus heutiger Sicht hätte das Fach die Bezeichnung „Mega-Physik“ verdient. Es bestand aus der Mechanik (der grundlegenden Wissenschaft für den Maschinenbau und das Bauwesen), der Elektrotechnik (einem technischen Zweig, der in zunehmendem Maße den wirtschaftlichen Fortschritt bestimmen sollte und der nur 30 Jahre später mit der Elektronik den dominierenden spin-off für die Weiterentwicklung der Wissenschaft und Wirtschaft hervorbrachte), der Akustik (eine Teilgebiet, das zusammen mit der Elektrotechnik für viele Hobby-Naturwissenschaftler wichtig werden sollte), der Thermodynamik oder Wärmelehre (eine bereits sehr weit fortgeschrittene Wissenschaft, die als Grundlage für die Herstellung von mechanischen und elektrischen Energieformen in den vergangenen 100 Jahren eine herausragende Bedeutung gewann). Man sieht, die Physik hatte schon damals eine herausragende Bedeutung.
Das galt für uns in besonderem Maße, da wir uns dem naturwissenschaftlich ausgerichteten Zweig unseres Domgymnasium verschrieben hatten. Na, wie weit hatten wir uns ihm denn verschrieben? Wie das eben so ist; der eine aus Neigung, der andere, weil Latein und Griechisch auf dem altsprachlichen Zweig ihm anstrengender später weniger erfolgversprechend erschienen. Man kann also auch sagen: wir wollten uns vor dem extensiven Studium toter Sprachen drücken.
Welche Lehrer führten uns in die Methoden der Physik ein? Es waren an unserer Schule die Studienräte Böhnel, Schwarze, Warnecke und vor allem Oberstudienrat Karl „Kalle“ Kleinschmidt, der uns während der gesamten Oberstufe engagiert, mit hohem Anspruch auf Bedeutung seines Faches Kenntnisse vermittelte. Sein Unterricht war klar gegliedert, zielstrebig, seine Experimente zahlreich und detailliert vorbereitet. Ein idealer Physikunterricht?
Viele in unserer Klasse sahen das anders. Seine menschlich- pädagogischen Fähigkeiten waren wohl schwächer ausgebildet als seine fachlichen. Wenn er einen Schüler als gut eingestuft hatte, dann war der es für ihn auch und blieb es. Die nicht so glücklichen konnten bei ihm nie auf einen grünen Zweig kommen. Sie wurden von ihm verunsichert, er hatte wenig Geduld mit ihnen und ließ sie deutlich spüren, dass sie nicht zu den Auserwählten der Physik zählten. Er schreckte auch nicht davor zurück, ihnen sarkastisch zu empfehlen, doch etwas anderes zu lernen.
Wer dagegen zu seinen Hoffnungsträgern zählte, hatte das Physikabitur praktisch in der Tasche. Zwei ausgewählte Schüler, Volker und Ken, durften ihm an den Abenden vor seinen Physikstunden helfen, die zum Teil sehr aufwendigen Versuche für die Klasse vorzubereiten. Sie erinnern sich, dass manche dieser Versuchsvorbereitungen bis weit über Mitternacht andauerten. „Kalle“ bemerkte dies immer erst sehr spät. Dann kam irgendwann seine Frage an seine beiden „freiwilligen“ Helfer: „Kinderchen, bekommt ihr gar keinen Ärger mit euren Eltern?“
Wenn sie verneinten, hatte er seelenruhig mit ihnen weiter seine Versuche vorbereitet. Da ist die Erinnerung an die Vorbereitung eines Versuches, bei dem die Geschwindigkeit des Lichtes gemessen werden sollte. Sie hatten damals bis fast zwei Uhr nachts diesen sehr aufwendigen Versuch mit ihm aufgebaut. Er entließ sie dann endlich nach Hause. Als sie morgens zur ersten Stunde pünktlich bei ihm im Physikraum auf der Matte standen, schickte er sie in den Vorbereitungsraum:
„Geht schlafen, ich führe den Versuch allein vor!“
Aber natürlich nahmen sie am Unterricht teil, zum Schlafen waren sie noch viel zu aufgekratzt. Die Mühe hatte sich gelohnt: der Versuch funktionierte wie geplant. Sie errechneten eine Lichtgeschwindigkeit von 300.000 Kilometer pro Stunde. Das bedeutet, das Licht benötigt ca. eine Sekunde bis zum Mond oder 8 bis 10 Minuten bis zur Sonne. „Kalle“ diktierte einige grundlegende Aussagen zur Geschwindigkeit des Lichtes, gab uns ein paar Hausaufgaben auf und beendete seinen Unterricht.
In der nächsten Stunden wurde abgefragt. Das geschah meist nach dem gleichen Schema. „Kalle“ setzte sich mit übereinander geschlagenen Beinen vor die Klasse, sah uns fest in die Augen und schleuderte seine Fragen in den Raum. Außerdem schleuderte er die Boten seiner feuchten Aussprache über die vorn Sitzenden. Die duckten sich weg, um nicht durchnässt zu werden. Eigentlich hätten sie eines Regenschirmes bedurft. Danach kam der spannende Moment: Wer würde diesmal sein Opfer? In diesen Sekunden hatte sogar Ken als einer seiner Physik-Spezies gezittert, denn etliche seiner Fragen hätte auch er nicht beantworten können. Doch meist ging der Kelch an ihm auf einfache Weise vorüber, indem „Kalle“ ihn zu den Grundlagen des jeweils behandelten physikalischen Gebietes fragte. Das war für ihn sehr einfach. Er erhielt eine gute Zensur und ein peinliches Lob. Danach konnte er sich beruhigt zurücklehnen. Es war sicher, er kam nicht noch einmal dran. Dafür quälte „Kalle“ die aus seiner Sicht weniger guten Schülern und besonders die „Wackelkandidaten“.
Die Art und Weise, mit der „Kalle“ vor allen Dingen die schlechteren Schüler behandelte, brachte ihm natürlich eine Menge Feinde ein. Diese dachten sich alle möglichen Streiche aus, um ihn zumindest ein wenig heimzuzahlen, was er ihnen an Leid in der Schule zugefügt hatte. Eine seiner Klassen trieb es so weit, ihm die Schlösser seiner Wohnungstür mit Gips zu verschmieren, so dass „Kalle“ das Verlassen seiner Wohnung unmöglich war und er sich von der Polizei befreien lassen musste.
Bei aller Kritik an „Kalles“ schwach ausgebildeten pädagogischen Fähigkeiten müssen wir eingestehen, dass er uns trotz aller Quälereien eine Menge sehr gut brauchbaren physikalischen Grundwissens eingetrichtert hat. Das haben alle die von uns gemerkt, die nach der Schule in ihrem Studium sich auch mit der Physik beschäftigen mussten. Wir hatten wesentliche Dinge bereits bei ihm in der Schule beigebracht bekommen.